Berlin – Die viktorianische Epoche war für England die Zeit der morbiden Schönheit. Fotografien geschmückter Toter im Familienkreis waren en vogue, die Schauerliteratur brachte Bedeutendes hervor, und auch in der Malerei standen mit den Präraffaeliten die Zeichen auf dunkler Mystik. Ein recht eigenständiger Meister der Dunkelheit jener Jahre war John Atkinson Grimshaw.
Geboren wurde er 1836 in Leeds als Sohn eines Polizisten. Er erhielt nie eine formale Ausbildung, sondern erarbeitete sich seine Kenntnisse als Autodidakt. 1856 heiratete er seine Cousine Frances „Fanny“ Hubbard. Er arbeitete zunächst als Eisenbahnangestellter, gab dies jedoch 1861 auf, um sich, sehr zum Mißfallen seiner Eltern, ganz der Malerei zu widmen.
Er begann mit Stilleben von Blumen, Früchten und toten Vögeln, wobei er sich stilistisch an William Henry Hunt (1790–1864) orientierte. Seine erste Ausstellung hatte er 1862 unter der Schirmherrschaft der „Leeds Philosophical and Literary Society“, deren Mitglieder auch zu seinen frühesten Kunden gehörten. Auch in London konnte er bereits ausstellen, die Royal Academy of Arts zeigte fünf seiner Werke. 1865 war er immerhin erfolgreich genug, um mit seiner Frau in eine bessere Wohngegend umziehen zu können.
Bald hatte Grimshaw im weiteren Kontext der präraffaelitischen Strömung einen eigenen, obskuren Stil entwickelt, der sich schwerpunktmäßig mit Stadt- und Hafenansichten von London, Leeds, Liverpool und Glasgow bei Dämmerung und Mondlicht befaßte. Grimshaw entwickelte sich zum Meister des Zwielichts. Jahreszeiten und Wetter wurden akkurat wiedergegeben. Daneben malte er Interieurs, Porträts und Feenbilder.
1870 konnte er sich dank seines zunehmenden Erfolges in einer Villa am Stadtrand von Leeds niederlassen., und später mietete er noch einen Zweitwohnsitz in Scarborough, welcher häufig abgebildet wurde.
In den 1880er Jahren hatte er für einige Zeit ein Atelier im Londoner Stadtteil Chelsea. Das Atelier James Abbott McNeill Whistlers lag ganz in der Nähe, und eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden Künstlern ist, zumindest in der Themenwahl und der Betonung der Atmosphäre, erkennbar. Im Gegensatz zu Whistlers verschwommener, dem Impressionismus verwandter Wiedergabe der Nacht, ging es Grimshaw jedoch, wie den Präraffaeliten, um eine realistische, fast fotografische Genauigkeit. Grimshaw starb 1893 in seiner Heimatstadt Leeds an Krebs.
Mehrere seiner 15 Kinder, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten, namentlich Arthur E. Grimshaw (1864–1913), Louis H. Grimshaw (1870–1944), Wilfred Grimshaw (1871–1937) und Elaine Grimshaw (1877–1970), wurden ebenfalls Maler. Ein herausragender Schüler Grimshaws war Walter Linsley Meegan (1859-1944), der dessen atmosphärisch-dunklen Stil in gekonnter Weise fortsetzte.
Verweise:
https://art-depesche.info/louise-jopling-eine-portratmalerin-der-viktorianischen-zeit
https://www.tate.org.uk/art/artists/atkinson-grimshaw-227
https://www.artnet.com/artists/john-atkinson-grimshaw/
https://artuk.org/discover/artists/grimshaw-john-atkinson-18361893